Manchester-Triage-System (MTS)

Das Manchester-Triage-System (MTS) ist ein standardisiertes Verfahren zur systematischen Ersteinschätzung der Behandlungsdringlichkeit von Patienten in Notaufnahmen. Dabei handelt es sich um eine Triage-Methodik, die darauf abzielt, den Schweregrad von Erkrankungen oder Verletzungen schnell zu erkennen. Anhand festgelegter Kategorien wird die Dringlichkeit der Behandlung eingestuft, um eine effiziente und zielgerichtete Versorgung der Patienten zu gewährleisten.

Einleitung

Das Manchester-Triage-System (MTS) ist ein standardisiertes Verfahren zur Einschätzung der Dringlichkeit von Patienten in der Notaufnahme. Entwickelt in den 1990er Jahren in Manchester, Großbritannien, zielt das System darauf ab, eine schnelle und konsistente Priorisierung von Patienten basierend auf der Schwere ihrer Symptome zu ermöglichen. Dieser Artikel bietet eine umfassende Übersicht über das MTS, seine Implementierung und seine Bedeutung für medizinisches Fachpersonal.

Hintergrund und Entwicklung

Ursprünge des Systems

Die Notwendigkeit eines standardisierten Triage-Systems entstand aus der zunehmenden Belastung der Notaufnahmen und der Notwendigkeit, eine gerechte und effiziente Behandlung zu gewährleisten. Das Manchester-Triage-System wurde von einer Gruppe von Notfallmedizinern und Pflegekräften entwickelt, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Es wurde erstmals 1996 veröffentlicht und hat sich seitdem weltweit verbreitet.

Prinzipien und Ziele

  • Patientensicherheit
    • Sicherstellung, dass Patienten mit lebensbedrohlichen Zuständen sofort identifiziert und behandelt werden.
  • Effizienz
    • Optimierung der Ressourcenverteilung und Minimierung der Wartezeiten.
  • Standardisierung
    • Etablierung einheitlicher Kriterien zur Bewertung der Dringlichkeit, um die Konsistenz der Triage-Entscheidungen zu gewährleisten.

Struktur des Manchester-Triage-Systems

Kategorien und Farbcode

Das MTS kategorisiert Patienten in fünf Dringlichkeitsstufen, jede mit einer spezifischen Farbe kodiert:

KategorieFarbeDringlichkeitBeschreibung
SofortSofortige BehandlungLebensbedrohliche Zustände, die sofortige medizinische Intervention erfordern.
Sehr dringendInnerhalb von 10 MinutenSehr ernste Zustände, die schnellstmögliche medizinische Aufmerksamkeit benötigen.
DringendInnerhalb von 30 MinutenErnste Zustände, die innerhalb einer Stunde behandelt werden sollten.
NormalInnerhalb von 90 MinutenWeniger ernste Zustände, die in 1,5 Stunden behandelt werden können.
Nicht dringendInnerhalb von 120 MinutenNicht dringliche Zustände, die innerhalb von 2 Stunden behandelt werden können.
Tab. 1.1: MTS: Kategorien und Farbcode

Entscheidungsbäume und Algorithmen

Das System verwendet Entscheidungsbäume und spezifische Algorithmen, um die Dringlichkeit zu bestimmen. Diese basieren auf den präsentierten Symptomen und klinischen Zeichen. Jeder Entscheidungsbaum beginnt mit einer Hauptbeschwerde, die dann weiter spezifiziert wird, um die passende Dringlichkeitsstufe zu bestimmen.

Beispiel eines Entscheidungsbaums

Für die Hauptbeschwerde „Brustschmerzen“ könnte der Entscheidungsbaum wie folgt aussehen:

  1. Ist der Patient bewusstlos?
  2. Hat der Patient Atembeschwerden?
    • Ja: Kategorie Orange
    • Nein: Weiter zu Frage 3
  3. Hat der Patient bekannte Herzerkrankungen?
    • Ja: Kategorie Gelb
    • Nein: Kategorie Grün oder Blau je nach weiteren Symptomen

Fallbeispiel

  • Patientendaten
    • Name: Anna Müller
    • Alter: 45 Jahre
    • Geschlecht: Weiblich
    • Ankunft in der Notaufnahme: 14:30 Uhr

Anamnese und Ersteinschätzung

Anna Müller wird von ihrem Ehemann in die Notaufnahme gebracht. Sie klagt über starke Brustschmerzen, die seit etwa einer Stunde bestehen. Sie ist blass, schweißgebadet und wirkt sehr ängstlich. Ihr Ehemann berichtet, dass Anna in der Vergangenheit bereits Herzprobleme hatte und derzeit Medikamente gegen Bluthochdruck einnimmt.

Triage-Einschätzung

Bei der Ankunft wird Anna sofort von einer Krankenschwester registriert und in den Triage-Bereich gebracht. Die Triage-Krankenschwester beginnt mit der Ersteinschätzung:

  • Hauptbeschwerde
    • Starke Brustschmerzen
  • Vitalzeichen:
  • Symptome:
    • Intensiver, drückender Schmerz im Brustbereich
    • Ausstrahlung des Schmerzes in den linken Arm und den Kiefer
    • Übelkeit und Schwindel

Zuordnung zur Triage-Kategorie

Auf Basis der Manchester-Triage-Kriterien wird Anna in die rote Zone (Sofortige Aufmerksamkeit) eingestuft, da ihre Symptome auf einen akuten Herzinfarkt hinweisen könnten und sofortige medizinische Intervention erforderlich ist.

Möglicher Ablauf der Behandlung

  • 1. Sofortige Maßnahmen:
    • Anna wird umgehend in einen Behandlungsraum gebracht.
    • Ein EKG wird durchgeführt, um die Herzaktivität zu überprüfen.
    • Intravenöser Zugang wird gelegt, um bei Bedarf schnell Medikamente verabreichen zu können.
    • Sauerstoffgabe, um die Sauerstoffsättigung zu verbessern.
  • 2. Ärztliche Untersuchung:
    • Der diensthabende Arzt trifft innerhalb von Minuten ein und bewertet Annas Zustand.
    • Blutproben werden entnommen, um die Herzmarker (Troponin) zu bestimmen.
  • 3. Weiterführende Maßnahmen:
    • Das EKG zeigt Veränderungen, die mit einem Herzinfarkt vereinbar sind.
    • Der Notarzt entscheidet, Anna sofort in den Herzkatheterraum zu verlegen, um eine Koronarangiographie durchzuführen.

Implementierung und Anwendung

Schulung und Ausbildung

Eine korrekte Implementierung des MTS erfordert umfassende Schulungen für das medizinische Personal. Dies umfasst:

  • Grundlagenschulungen
    • Einführung in die Prinzipien und Ziele des MTS.
  • Praktische Übungen
    • Anwendung der Entscheidungsbäume und Algorithmen in simulierten Szenarien.
  • Fortlaufende Weiterbildung
    • Regelmäßige Auffrischungskurse und Updates über neue Entwicklungen im Triage-System.

Vorteile und Herausforderungen

  • Vorteile
    • Verbesserte Patientensicherheit: Schnelle Identifizierung und Behandlung von Patienten mit lebensbedrohlichen Zuständen.
    • Effiziente Ressourcennutzung: Optimierung der Verteilung von Personal und medizinischen Ressourcen.
    • Konsistenz: Einheitliche Bewertungskriterien führen zu konsistenten Triage-Entscheidungen.
  • Herausforderungen
    • Implementierungskosten: Schulungen und Anpassungen der Abläufe können initial hohe Kosten verursachen.
    • Anpassungsfähigkeit: Lokale Anpassungen und regelmäßige Überprüfungen sind notwendig, um die Effektivität des Systems sicherzustellen.
    • Subjektivität: Trotz standardisierter Kriterien können individuelle Unterschiede in der Bewertung auftreten.
Manchester-Triage-System-MTS
Beim MTS kennzeichnen farbliche Zuordnungen die unterschiedlichen Dringlichkeitsstufen.

Fallstudien und Evaluation

Erfolgsbeispiele

Studien haben gezeigt, dass das MTS die Wartezeiten in Notaufnahmen verkürzt und die Patientenzufriedenheit erhöht. In einer Fallstudie eines großen städtischen Krankenhauses wurde eine Reduktion der durchschnittlichen Wartezeit um 20% festgestellt, nachdem das MTS implementiert wurde.

Kontroversen und Kritik

Trotz seiner Vorteile gibt es auch Kritik am MTS. Einige Studien haben auf die potenzielle Über- oder Unterbewertung von Patienten hingewiesen. Es wird argumentiert, dass das System in bestimmten Situationen, wie bei komplexen medizinischen Fällen oder nicht eindeutigen Symptomen, weniger effektiv sein könnte.

Einführung in Deutschland

Beginnend mit ersten Einführungen 1995 in Manchester, fand das Manchester-Triage-System binnen kurzer Zeit auch außerhalb der britischen Insel Verbreitung. In Deutschland begann die Einführung des MTS im Jahr 2004 in den städtischen Kliniken Hamburgs. Die Charité war 2008 die erste Universitätsklinik, die dieses Verfahren einführte. Heute ist MTS in Krankenhäusern aller Versorgungsstufen und Trägerschaften deutschlandweit weit verbreitet. Es wird geschätzt, dass etwa 20 % aller Notaufnahmen in Deutschland das MTS anwenden.

Zukünftige Entwicklungen und Forschung

Technologische Integration

Die Integration von Technologie, wie elektronische Triage-Systeme und Entscheidungsunterstützungstools, wird als nächster Schritt in der Weiterentwicklung des MTS gesehen. Diese Technologien könnten die Genauigkeit und Effizienz weiter verbessern.

Forschung und Anpassung

Kontinuierliche Forschung ist notwendig, um die Wirksamkeit des MTS zu evaluieren und Anpassungen vorzunehmen. Dies umfasst Studien zur Validität der Entscheidungsbäume und zur Anpassung des Systems an spezifische regionale oder institutionelle Bedürfnisse.

Zusammenfassung

Das Manchester-Triage-System ist ein wesentliches Werkzeug für die Notfallmedizin, das die Sicherheit und Effizienz in Notaufnahmen erheblich verbessern kann. Durch standardisierte Bewertungsprozesse ermöglicht es eine konsistente und schnelle Priorisierung von Patienten. Trotz einiger Herausforderungen und Kritikpunkte bietet das MTS eine solide Grundlage für die Triage in der Notfallmedizin. Zukünftige Entwicklungen und kontinuierliche Forschung werden entscheidend sein, um das System weiter zu verbessern und an die sich wandelnden Bedürfnisse der Gesundheitsversorgung anzupassen.

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