Die Fähigkeit von Krebszellen, sich zu verbreiten und in andere Teile des Körpers zu wandern, macht sie besonders gefährlich. In den letzten Jahren haben Wissenschaftler festgestellt, dass bestimmte Krebszellen lange, tentakelartige Strukturen entwickeln können, die sie dabei unterstützen, sich vom ursprünglichen Tumor zu lösen, durch das Gewebe zu wandern und sich an anderen Orten im Körper niederzulassen. Diese tentakelartigen Strukturen sind als Tumor-Mikrotentakel (McTNs) und Invadopodien (Invadopodia) bekannt. Beide spielen eine zentrale Rolle bei der Metastasierung, also der Verbreitung von Krebszellen in den Körper, was die Sterblichkeit bei Krebserkrankungen drastisch erhöht.
Was sind Tumor-Mikrotentakel (McTNs)?
Tumor-Mikrotentakel (Microtentacles, kurz McTNs) sind feine, fadenförmige Fortsätze, die von den Zellen des Tumors gebildet werden. Diese Strukturen bestehen vor allem aus Aktin, einem Protein, das eine Schlüsselrolle bei der Organisation des Zellgerüsts (Zytoskelett) spielt. Das Zytoskelett verleiht der Zelle Struktur und Form und ermöglicht die Bewegung und das Andocken an andere Zellen oder die umgebende Matrix.
McTNs wurden zuerst in zirkulierenden Tumorzellen (CTCs) entdeckt – das sind Tumorzellen, die sich vom Primärtumor gelöst haben und durch das Blut oder die Lymphgefäße zu anderen Organen wandern. Diese Mikrotentakel ermöglichen es den Zellen, im Blutstrom zu überleben, sich an anderen Stellen zu verankern und sekundäre Tumoren zu bilden. Sie funktionieren wie „Anker“, mit denen sich die Zellen an verschiedenen Oberflächen festhalten können, bevor sie sich durch die Gefäßwand zwängen und in das umliegende Gewebe eindringen.
Mechanismen der Mikrotentakelbildung:
- Aktin-Polymerisation
➜ McTNs entstehen durch die Organisation und Polymerisation von Aktinfilamenten. Diese Filamente verlängern sich und formen so lange, bewegliche Ausstülpungen an der Zelloberfläche. - Mikrotubuli
➜ Neben dem Aktin sind Mikrotubuli ebenfalls ein wichtiger Bestandteil der Mikrotentakel. Sie stabilisieren die Ausstülpungen und ermöglichen deren Flexibilität und Bewegung. - Zell-Zell-Interaktionen
➜ McTNs sind entscheidend, um zirkulierende Tumorzellen in Kontakt mit anderen Zellen oder der extrazellulären Matrix zu halten, wodurch diese Zellen eine erhöhte Überlebensfähigkeit aufweisen.
Was sind Invadopodien?
Während McTNs eher in zirkulierenden Tumorzellen vorkommen, bilden Invadopodien (von lateinisch „invadere“ = eindringen und „podia“ = Füße) Strukturen, die Krebszellen aktiv in festem Gewebe helfen, Barrieren zu durchdringen. Diese spezialisierten Fortsätze wirken wie „Zellbohrer“, die in das umgebende Gewebe eindringen, indem sie Matrix-abbauende Enzyme freisetzen, die die extrazelluläre Matrix (ECM) abbauen.
Die extrazelluläre Matrix besteht aus einem Netzwerk von Proteinen wie Kollagen, Laminin und Fibronektin, die die Zellen im Gewebe zusammenhalten und stützen. Krebszellen sind jedoch in der Lage, diese Struktur zu durchbrechen, indem sie mit Hilfe von Invadopodien spezifische Enzyme, wie Matrix-Metalloproteinasen (MMPs), freisetzen, die das Gewebe auflösen.
Funktion von Invadopodien
- Matrixabbau
➜ Der primäre Zweck der Invadopodien ist es, eine Lücke in der extrazellulären Matrix zu schaffen, durch die die Zellen wandern können. - Signalübertragung
➜ Invadopodien sind nicht nur mechanische Strukturen, sondern fungieren auch als Plattformen für Signalübertragungsprozesse, die das Wachstum und die Invasion der Krebszellen regulieren. - Metastasierung
➜ Durch die Auflösung der Matrix können Krebszellen sich leichter vom Tumor lösen und in das umgebende Gewebe eindringen oder in Blut- und Lymphgefäße gelangen.
Die Rolle von Mikrotentakeln und Invadopodien bei der Metastasierung
Die Ausbreitung von Krebs durch den Körper – Metastasierung – ist einer der Hauptgründe, warum Krebs so schwer zu behandeln ist. Nur durch die Fähigkeit, sich von ihrem ursprünglichen Standort zu lösen und in andere Körperteile zu wandern, können Krebszellen die lebensbedrohlichen Metastasen bilden.
Schritte der Metastasierung
- Ablösung vom Primärtumor
➜ Krebszellen können sich durch den Verlust von Zelladhäsionsmolekülen, wie z.B. E-Cadherin, von ihrem Ursprungsgewebe lösen. Mikrotentakel und Invadopodia spielen hierbei eine Schlüsselrolle, da sie es den Zellen ermöglichen, aktiv die Bindungen zu ihrem Ursprungsort zu durchbrechen. - Invasion des umgebenden Gewebes
➜ Invadopodien ermöglichen es Krebszellen, in das umgebende Gewebe vorzudringen, indem sie die extrazelluläre Matrix abbauen. Sie fungieren gewissermaßen als „Schneidwerkzeuge“, die den Krebszellen den Weg durch die Gewebebarrieren ebnen. - Eintritt in Blut- oder Lymphgefäße
➜ Sobald die Zellen das umliegende Gewebe durchdrungen haben, können sie in Blut- oder Lymphgefäße gelangen, um von dort aus durch den Körper zu reisen. Hier kommen die Mikrotentakel ins Spiel, die den Zellen helfen, sich an den Gefäßwänden zu verankern und sich durch die engen Zwischenräume der Gefäße zu zwängen. - Überleben im Blutkreislauf
➜ Der Blutkreislauf stellt für zirkulierende Tumorzellen eine feindliche Umgebung dar. Mikrotentakel helfen den Zellen, nicht nur zu überleben, sondern auch ihre Mobilität und Aggressivität beizubehalten. Sie erhöhen die Fähigkeit der Zellen, sich an die Gefäßwände zu heften und zu überleben, bis sie den nächsten geeigneten Ort für die Bildung einer Metastase finden. - Ansiedlung und Bildung von Sekundärtumoren
➜ Sobald die Krebszellen einen neuen Ort erreicht haben, verankern sie sich mithilfe ihrer Mikrotentakel an das neue Gewebe und beginnen dort zu wachsen und einen neuen Tumor zu bilden.
Medizinische Bedeutung und therapeutische Ansätze
Die Erkenntnis, dass Tumorzellen diese tentakelartigen Strukturen bilden, hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Krebsforschung und die Entwicklung neuer Therapien. Ziel ist es, die Mechanismen, die zur Bildung und Funktion von McTNs und Invadopodia führen, zu stören, um so die Metastasierung zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen.
Therapie: Hemmung von Mikrotentakeln und Invadopodien
- Aktin-Zytoskelett-Stabilisatoren: Medikamente, die auf das Aktin-Zytoskelett abzielen, könnten die Bildung von McTNs verhindern. Dies würde die Fähigkeit der Zellen, sich zu lösen und zu wandern, drastisch reduzieren.
- Matrix-Metalloproteinase-Inhibitoren (MMP-Hemmer): Durch die Blockade der MMPs, die von Invadopodia freigesetzt werden, könnte die Krebszelle daran gehindert werden, die extrazelluläre Matrix zu durchbrechen und in andere Gewebe einzudringen.
- Hemmer der Signalübertragung: Die Signalübertragungswege, die die Bildung und Aktivität von Mikrotentakeln und Invadopodia steuern, sind ein weiteres vielversprechendes Ziel für neue Krebsmedikamente.
- Immuntherapie: Es gibt auch Ansätze, das Immunsystem zu stärken, damit es die Krebszellen und deren Ausstülpungen erkennt und angreift. Durch Immuncheckpoint-Inhibitoren kann das Immunsystem reaktiviert werden, um aggressive Krebszellen, die Mikrotentakel und Invadopodia verwenden, gezielt zu eliminieren.
Zusammenfassung
Die tentakelartigen Strukturen von Tumorzellen, Mikrotentakel und Invadopodien, sind faszinierende und bedrohliche Mechanismen, die es den Krebszellen ermöglichen, sich im Körper auszubreiten. Diese Strukturen spielen eine Schlüsselrolle bei der Metastasierung, indem sie den Krebszellen helfen, sich von ihrem Ursprungsort zu lösen, in andere Gewebe einzudringen und sekundäre Tumoren zu bilden. Die Erforschung dieser Strukturen bietet vielversprechende Ansatzpunkte für die Entwicklung neuer therapeutischer Strategien, die darauf abzielen, die Ausbreitung von Krebs im Körper zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen.
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