Großhirn: Anatomie, Funktion, Pathologie

Synonym:
Endhirn, Telencephalon, Cerebrum
Größe:
2 – 4 mm dicke Oberflächenschicht
Griechisch:
tele (τῆλε) = fern, egkephalos (ἐγκέφαλος) = Gehirn
Englisch:
cerebrum
Aussprache (IPA):
ɡroːshɪrn

Das Großhirn (Cerebrum) ist der größte Teil des menschlichen Gehirns und spielt eine zentrale Rolle bei den höheren kognitiven Funktionen, der sensorischen Wahrnehmung und der motorischen Steuerung. Es ist in zwei Hemisphären unterteilt, die durch den Corpus callosum verbunden sind. Jede Hemisphäre besteht aus verschiedenen Lappen (Frontallappen, Parietallappen, Temporallappen und Okzipitallappen), die jeweils spezialisierte Funktionen haben.

Anatomische Struktur

Hemisphären

  • Linke Hemisphäre
    ➜ verantwortlich für Sprachverarbeitung, logisches Denken und analytische Fähigkeiten.
  • Rechte Hemisphäre
    ➜ zuständig für räumliche Wahrnehmung, kreatives Denken und intuitive Fähigkeiten.

Gyri und Sulci

Gyri und Sulci tragen zusammen zur komplexen Struktur des Gehirns bei und ermöglichen eine effizientere Nutzung des verfügbaren Raums innerhalb des Schädels.

  • Gyri (Einzahl: Gyrus)
    ➜ sind die Windungen oder Erhebungen auf der Oberfläche des Gehirns. Diese Strukturen erhöhen die Oberfläche des Gehirns, was es ermöglicht, eine größere Anzahl von Neuronen unterzubringen und somit die kognitiven Fähigkeiten zu verbessern.
  • Sulci (Einzahl: Sulcus)
    sind die Furchen oder Vertiefungen zwischen den Gyri auf der Gehirnoberfläche. Diese Furchen tragen ebenfalls zur Vergrößerung der Gehirnoberfläche bei und trennen die verschiedenen Gyri voneinander.

Großhirnrinde (Cortex cerebri)

  • Graue Substanz
    ➜ enthält die Zellkörper der Neuronen und ist verantwortlich für die Verarbeitung von Informationen.
  • Weiße Substanz
    ➜ besteht aus myelinisierten Axonen, die verschiedene Teile des Gehirns miteinander verbinden und schnelle Informationsübertragung ermöglichen.
  • Funktionelle Bereiche:
    • Primär motorischer Cortex (Gyrus praecentralis)
      ➜ steuert freiwillige Bewegungen.
    • Primär somatosensorischer Cortex (Gyrus postcentralis)
      ➜ verarbeitet sensorische Informationen aus dem gesamten Körper.
    • Primär visueller Cortex (Okzipitallappen)
      ➜ zuständig für die Verarbeitung visueller Informationen.
    • Primär auditorischer Cortex (Temporallappen)
      ➜ verarbeitet auditive Informationen.
    • Assoziationscortex
      ➜ involviert in höhere kognitive Funktionen wie Denken, Planen und Problemlösen.

Lappen des Großhirns

  • Frontallappen (Stirnlappen)
    ➜ Sitz der motorischen Steuerung, Entscheidungsfindung, Problemlösung und Sprache (Broca-Areal).
  • Parietallappen (Scheitellappen)
    ➜ Verarbeitung sensorischer Informationen, räumliche Orientierung und Körperwahrnehmung.
  • Temporallappen (Schläfenlappen)
    ➜ Hören, Sprache (Wernicke-Areal) und Gedächtnis.
  • Okzipitallappen (Hinterhauptslappen)
    ➜ Verarbeitung visueller Informationen.

Corpus callosum

  • Strukturen
    ➜ Rostrum (vorderer Teil), Genu (knieförmige Teil, der sich nach hinten krümmt), Truncus (zentraler Hauptteil), Splenium (hinterer Teil)
  • Funktion
    ➜ Dicker Strang weißer Substanz, der die beiden Hemisphären des Großhirns verbindet und den Informationsaustausch zwischen ihnen ermöglicht.

Basalganglien

  • Strukturen
    ➜ Nucleus caudatus, Putamen, Globus pallidus, Substantia nigra und Nucleus subthalamicus.
  • Funktion
    ➜ Steuerung und Koordination von Bewegungen, motorisches Lernen und Verhaltenskontrolle.

Limbisches System

  • Strukturen
    ➜ Hippocampus, Amygdala, Gyrus cinguli und Septum.
  • Funktion
    ➜ Regulation von Emotionen, Gedächtnisbildung und Motivationsverhalten.
    • Hippocampus
      ➜ entscheidend für die Bildung und den Abruf von Erinnerungen.
    • Amygdala
      ➜ Verarbeitung und Speicherung emotionaler Reaktionen.

Riechhirn (Bulbus olfactorius)

  • Funktion
    ➜ Verarbeitung von Geruchsinformationen und Teil des limbischen Systems.
Großhirnanatomie
Abb.1.1: Anatomie des menschlichen Großhirns

Funktionale Aspekte

Motorische Funktionen

Der motorische Cortex im Frontallappen steuert willkürliche Bewegungen. Der prämotorische Cortex und das supplementär-motorische Areal sind ebenfalls an der Planung und Koordination von Bewegungen beteiligt.

Sensorische Funktionen

Der somatosensorische Cortex im Parietallappen verarbeitet sensorische Informationen aus dem gesamten Körper, einschließlich Berührung, Temperatur und Schmerz.

Sprachverarbeitung

Das Broca-Areal im Frontallappen ist für die Sprachproduktion zuständig, während das Wernicke-Areal im Temporallappen die Sprachverständnis verarbeitet.

Gedächtnis und Lernen

Der Hippocampus, Teil des limbischen Systems, spielt eine zentrale Rolle bei der Bildung und dem Abruf von Erinnerungen.

Emotionale Regulation

Die Amygdala ist entscheidend für die Verarbeitung von Emotionen wie Angst und Wut.

Klinische Relevanz

Schlaganfall

Schlaganfälle im Großhirn können zu motorischen und sensorischen Ausfällen, Sprachstörungen und kognitiven Beeinträchtigungen führen, abhängig von der betroffenen Region.

Neurodegenerative Erkrankungen:

Krankheiten wie Alzheimer betreffen häufig das limbische System und den Cortex, was zu Gedächtnisverlust und kognitiven Defiziten führt.

Epilepsie

Epileptische Anfälle können im Großhirn entstehen und sich auf verschiedene Funktionen wie Bewegung, Bewusstsein und sensorische Wahrnehmung auswirken.

Traumatische Hirnverletzungen

Verletzungen des Großhirns können je nach betroffener Region zu vielfältigen Symptomen führen, von motorischen Defiziten bis hin zu Persönlichkeitsveränderungen.

Diagnostik

Eine genaue Diagnostik des Großhiorns ist entscheidend, um eine Vielzahl von neurologischen und psychischen Störungen zu erkennen und zu behandeln.

Klinische Untersuchung

Die klinische neurologische Untersuchung ist oft der erste Schritt bei der Diagnostik. Sie umfasst:

  • Anamnese
    ➜ Eine ausführliche Erhebung der Krankengeschichte, einschließlich der aktuellen Symptome, früherer Erkrankungen, Familienanamnese und Medikamenteneinnahme.
  • Körperliche Untersuchung
    ➜ Eine systematische Untersuchung der motorischen und sensorischen Funktionen, Reflexe, Koordination, Gleichgewicht und geistigen Status.

Bildgebende Verfahren

Bildgebende Verfahren sind entscheidend für die Visualisierung der Großhirnstrukturen und die Erkennung von Anomalien.

  • Magnetresonanztomographie (MRT)
    ➜ Eine detaillierte Bildgebungsmethode, die weiche Gewebe, wie das Gehirn, mit hoher Auflösung darstellt. Sie wird verwendet, um Tumore, Schlaganfälle, entzündliche Prozesse und degenerative Erkrankungen zu diagnostizieren.
  • Computertomographie (CT)
    ➜ Eine schnelle Bildgebungsmethode, die nützlich ist für die Erkennung von Blutungen, Schädelbrüchen und großen Tumoren.
  • Positronen-Emissions-Tomographie (PET)
    ➜ Diese Methode misst den Stoffwechsel und die Durchblutung im Gehirn und kann helfen, funktionelle Veränderungen bei Erkrankungen wie Alzheimer zu erkennen.
  • Single-Photon-Emissions-Computertomographie (SPECT)
    ➜ Ähnlich wie PET, bietet diese Methode funktionelle Informationen über die Hirndurchblutung und -aktivität.

Elektrophysiologische Untersuchungen

Diese Techniken messen die elektrische Aktivität des Gehirns und sind nützlich bei der Diagnose von Epilepsie und anderen neuronalen Störungen.

  • Elektroenzephalographie (EEG)
    ➜ Erfasst die elektrische Aktivität des Gehirns und hilft bei der Diagnose von Epilepsie, Schlafstörungen und Enzephalopathien.
  • Evoked Potentials (EP)
    ➜ Messen die elektrische Aktivität als Reaktion auf sensorische Reize (visuell, auditiv, somatosensorisch) und helfen bei der Diagnose von MS und anderen demyelinisierenden Erkrankungen.

Neuropsychologische Tests

Diese Tests bewerten kognitive Funktionen wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Sprache, visuell-räumliche Fähigkeiten und Exekutivfunktionen.

  • Mini-Mental-Status-Test (MMST)
    ➜ Ein kurzer Test zur Beurteilung der kognitiven Funktion, oft verwendet bei Verdacht auf Demenz.
  • Wechsler Adult Intelligence Scale (WAIS)
    ➜ Ein umfassender Test zur Bewertung der Intelligenz und kognitiven Fähigkeiten.
  • Benton Visual Retention Test
    ➜ Bewertet visuell-räumliche und Gedächtnisfähigkeiten.

Laboruntersuchungen

Blut- und Liquoruntersuchungen können Hinweise auf Infektionen, entzündliche Prozesse oder genetische Störungen geben.

  • Bluttests
    ➜ Einschließlich der Bestimmung von Elektrolyten, Glukose, Entzündungsmarkern und spezifischen Antikörpern.
  • Liquorpunktion
    ➜ Untersuchung des Hirnwassers (Liquor), um Infektionen, Blutungen und entzündliche Erkrankungen zu erkennen.

Genetische Tests

Genetische Untersuchungen können bei der Diagnose von erblichen neurologischen Erkrankungen hilfreich sein, wie z.B. Huntington-Krankheit, spinale Muskelatrophie und bestimmte Formen von Epilepsie.

Psychiatrische Bewertung

Bei Verdacht auf psychische Störungen, die das Großhirn betreffen, wie Depression, Schizophrenie oder bipolare Störung, ist eine psychiatrische Beurteilung wichtig.

Invasive Diagnostik

In einigen Fällen können invasive Verfahren erforderlich sein, um eine genaue Diagnose zu stellen.

  • Biopsie
    ➜ Entnahme einer Gewebeprobe aus dem Gehirn zur histopathologischen Untersuchung, oft verwendet bei Verdacht auf Tumore.
  • Angiographie
    ➜ Eine spezielle Röntgenuntersuchung der Blutgefäße im Gehirn, die helfen kann, Aneurysmen, arteriovenöse Malformationen und Stenosen zu identifizieren.

Zusammenfassung

Das Großhirn, auch Telencephalon genannt, ist der größte Teil des menschlichen Gehirns und umfasst die beiden Hemisphären, die durch den Corpus callosum verbunden sind. Es ist verantwortlich für höhere Gehirnfunktionen wie Denken, Erinnern, Bewusstsein und Sprache. Das Großhirn besteht aus der grauen Substanz (Cortex) und der weißen Substanz darunter. Der Cortex ist in vier Lappen unterteilt: frontal, parietal, temporal und okzipital, die jeweils spezifische Funktionen haben. Das Großhirn steuert motorische Fähigkeiten, sensorische Wahrnehmungen und kognitive Prozesse, die es dem Menschen ermöglichen, komplexe Aufgaben auszuführen und sich an die Umwelt anzupassen.

Quellen

  • Faller, A., & Schünke, M. (2016). Der Körper des Menschen: Einführung in Bau und Funktion (A. Faller & M. Schünke, Hrsg.; 17. Aufl.). Thieme.
  • Haupt, W. F., & Gouzoulis-Mayfrank, E. (2016). Neurologie und Psychiatrie für Pflegeberufe (W. F. Haupt & E. Gouzoulis-Mayfrank, Hrsg.; 11. Aufl.). Thieme.
  • Menche, N. (Hrsg.). (2016). Biologie Anatomie Physiologie: Mit Zugang zu pflegeheute.de (8. Aufl.). Urban & Fischer in Elsevier.
  • Carter, R. (2019) Das Gehirn: Anatomie, Sinneswahrnehmung, Gedächtnis, Bewusstsein, Störungen. Aktualisierte Neuausgabe. München: Dorling Kindersley.