WHO-Stufenschema

Das WHO-Stufenschema ist ein weltweit anerkanntes Modell zur Schmerztherapie, das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelt wurde. Es dient als Leitlinie für die Behandlung von Schmerzen, insbesondere bei Krebspatienten, und bietet eine strukturierte Herangehensweise, um Schmerzen effektiv und sicher zu lindern. Das Schema basiert auf der Verwendung von Schmerzmitteln in einem stufenweisen Ansatz, der je nach Intensität der Schmerzen und der Reaktion des Patienten auf die Behandlung angepasst wird.

Einführung

Schmerzen sind ein häufiges und belastendes Symptom bei vielen Krankheiten, insbesondere bei Krebs. Die adäquate Schmerzbehandlung ist ein entscheidender Aspekt der palliativen Pflege und trägt wesentlich zur Lebensqualität der Patienten bei. Das WHO-Stufenschema wurde erstmals 1986 eingeführt und hat seitdem weltweit Anwendung gefunden.

Das Drei-Stufen-Schema

Das WHO-Stufenschema besteht aus drei Stufen der analgetischen Therapie, die sich nach der Schmerzintensität richten. Der Wechsel zur nächsthöheren Stufe erfolgt, wenn die aktuelle Schmerzbehandlung unzureichend ist. Dies ist der Fall, wenn der Patient seine Schmerzen auf der Numeric Rating Scale weiterhin mit einem Wert über 3 in Ruhe und über 5 bei Belastung angibt. Je nach individueller Situation können Stufen auch übersprungen werden, sodass die Therapie nicht zwingend mit der ersten Stufe beginnen muss.

Stufe 1: Nicht-Opioid-Analgetika

Bei leichten Schmerzen empfiehlt die erste Stufe die Verwendung von Nicht-Opioid-Analgetika wie Paracetamol und nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) wie Ibuprofen oder Diclofenac. Diese Medikamente wirken durch die Hemmung der Prostaglandinsynthese und sind in der Regel gut verträglich. Nebenwirkungen wie gastrointestinale Beschwerden bei NSAR müssen jedoch berücksichtigt werden.

Wirkstoffe:

  • Azetylsalicylsäure (ASS)
  • Diclofenac
  • Diclofenac retardiert
  • Ibuprofen
  • Ibuprofen retardiert
  • Celecoxib
  • Metamizol
  • Paracetamol

Beispiel: Ein Patient mit leichten postoperativen Schmerzen nach einer Zahnextraktion könnte mit Paracetamol (500 mg alle 6 Stunden) erfolgreich behandelt werden.

Stufe 2: Schwache (Niedrig-potente) Opioidanalgetika

Bei mäßigen Schmerzen, die mit Nicht-Opioid-Analgetika nicht ausreichend kontrolliert werden können, wird die zweite Stufe des Schemas angewendet. Hier kommen schwache Opioide wie Tramadol oder Codein zum Einsatz, oft in Kombination mit Nicht-Opioid-Analgetika, um eine synergistische Wirkung zu erzielen und die Dosis der einzelnen Medikamente zu minimieren.

Wirkstoffe:

  • Tramadol
  • Tramadol retardiert
  • Tillidin + Naloxon
  • Tillidin + Naloxon retardiert
  • Dihydrocodein

Beispiel: Ein Patient mit mäßigen arthritischen Schmerzen, die nicht auf Ibuprofen allein ansprechen, könnte eine Kombination aus Tramadol (50 mg alle 8 Stunden) und Paracetamol (500 mg alle 6 Stunden) erhalten.

Stufe 3: Starke (Hoch-potente) Opioidanalgetika

Bei starken Schmerzen, die durch die ersten beiden Stufen nicht ausreichend gelindert werden können, wird die dritte Stufe des Schemas angewendet. Hierbei werden starke Opioide wie Morphin, Oxycodon, Fentanyl oder Methadon verwendet. Diese Medikamente sind hochwirksam, aber auch mit einem erhöhten Risiko für Nebenwirkungen und Abhängigkeit verbunden, weshalb eine sorgfältige Überwachung und Dosisanpassung notwendig ist.

Wirkstoffe:

  • Buprenorphin TTS
  • Fentanyl TTS
  • Hydromorphon retard
  • Morphin retard
  • Oxycodon retard

Beispiel: Ein Krebspatient mit starken Schmerzen könnte mit Morphin (10 mg alle 4 Stunden) behandelt werden, wobei die Dosis je nach Schmerzintensität und Verträglichkeit angepasst wird.

WHO-Stufenschema
Abb. 1.1: Die 3 Stufen des WHO-Stufenschemas

Zusätzlich zu den oben genannten Beispielen stehen verschiedene Opioide auch in unretardierter Form zur Behandlung von Schmerzspitzen oder Durchbruchschmerzen zur Verfügung.

Co-Medikation

Die Co-Medikation, auch als Adjuvanzien bezeichnet, spielt eine entscheidende Rolle in der Schmerztherapie nach dem WHO-Stufenschema. Diese zusätzlichen Medikamente unterstützen die Hauptanalgetika, verbessern deren Wirkung und helfen, Nebenwirkungen zu minimieren. Sie sind besonders nützlich bei der Behandlung komplexer Schmerzsyndrome, wie z.B. neuropathischer Schmerzen, die auf eine reine Analgetikatherapie nicht ausreichend ansprechen.

Antidepressiva

Antidepressiva werden häufig zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen eingesetzt. Sie wirken, indem sie die Wiederaufnahme von Neurotransmittern wie Serotonin und Noradrenalin hemmen, was zu einer Reduktion der Schmerzempfindung führt (Saarto & Wiffen, 2007).

Beispiele

  • Amitriptylin
    ➜ Ein trizyklisches Antidepressivum, das in niedrigen Dosen (10-25 mg pro Tag) begonnen und langsam erhöht wird. Es ist besonders wirksam bei der Behandlung von diabetischer Neuropathie und postherpetischer Neuralgie.
  • Duloxetin
    ➜ Ein Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI), der in einer Dosis von 60 mg pro Tag verwendet wird. Es hat sich als wirksam bei der Behandlung von schmerzhaften peripheren Neuropathien erwiesen.

Antikonvulsiva

Antikonvulsiva sind Medikamente, die ursprünglich zur Behandlung von Epilepsie entwickelt wurden, aber auch bei der Behandlung von neuropathischen Schmerzen wirksam sind, indem sie die neuronale Erregbarkeit reduzieren.

Beispiele

  • Gabapentin
    ➜ Wird häufig in einer Anfangsdosis von 300 mg pro Tag verwendet und kann bis zu 3600 mg pro Tag erhöht werden. Es ist besonders nützlich bei der Behandlung von postherpetischer Neuralgie und diabetischer Neuropathie.
  • Pregabalin
    ➜ Ein weiteres Antikonvulsivum, das in Dosen von 150-600 mg pro Tag verwendet wird. Es ist bekannt für seine Wirksamkeit bei neuropathischen Schmerzen und generalisierten Angststörungen.

Kortikosteroide

Kortikosteroide haben starke entzündungshemmende Eigenschaften und können bei Schmerzen eingesetzt werden, die durch Entzündungen verursacht werden. Sie sind besonders nützlich bei Schmerzen durch Tumorschwellungen oder bei bestimmten rheumatischen Erkrankungen.

Beispiele

  • Dexamethason
    ➜ Wird häufig in Dosen von 4 – 8 mg pro Tag eingesetzt und ist nützlich bei der Behandlung von Schmerzen durch spinalen Druck bei metastasiertem Krebs.
  • Prednison
    ➜ Ein weiteres Kortikosteroid, das in Dosen von 10 – 60 mg pro Tag verwendet wird, insbesondere bei entzündlichen Erkrankungen wie rheumatoider Arthritis.

Muskelrelaxanzien

Muskelrelaxanzien können bei der Behandlung von Schmerzen, die durch Muskelkrämpfe oder -spastizität verursacht werden, hilfreich sein. Sie wirken, indem sie die Muskelspannung reduzieren.

Beispiele

  • Baclofen
    ➜ Wird häufig in Dosen von 5 – 20 mg dreimal täglich eingesetzt und ist besonders nützlich bei spastischen Schmerzen durch multiple Sklerose oder Rückenmarksverletzungen.
  • Tizanidin
    ➜ Ein weiteres Muskelrelaxans, das in Dosen von 2 – 4 mg dreimal täglich verwendet wird und bei spastischen Schmerzen und Fibromyalgie wirksam ist.

Lokalanästhetika

Lokalanästhetika werden zur Schmerzlinderung durch Blockade der Nervenimpulse eingesetzt. Sie sind besonders nützlich bei der Behandlung von lokalen neuropathischen Schmerzen und bei bestimmten schmerzhaften Verfahren.

Beispiele

  • Lidocain-Pflaster
    ➜ Wird direkt auf die schmerzende Stelle aufgetragen und kann bis zu 12 Stunden pro Tag verwendet werden. Es ist besonders nützlich bei postherpetischer Neuralgie.
  • Lidocain-Injektionen
    ➜ Werden in die schmerzende Region injiziert und sind nützlich bei der Behandlung von lokalen neuropathischen Schmerzen und schmerzhaften Verfahren wie kleinen chirurgischen Eingriffen.

Anwendung in der Praxis

Die Umsetzung des WHO-Stufenschemas erfordert eine gründliche Schmerzanamnese und eine kontinuierliche Überwachung der Schmerzintensität und -qualität. Die Schmerztherapie sollte individuell angepasst werden, wobei Faktoren wie die Ursache des Schmerzes, Begleiterkrankungen und die persönliche Präferenz des Patienten berücksichtigt werden müssen. Regelmäßige Evaluierungen und Anpassungen der Therapie sind notwendig, um eine optimale Schmerzlinderung zu gewährleisten und Nebenwirkungen zu minimieren.

Herausforderungen und Kritik

Trotz seiner weit verbreiteten Anwendung stößt das WHO-Stufenschema auch auf Kritik. Einige Experten argumentieren, dass das stufenweise Vorgehen bei bestimmten Schmerzformen, wie z.B. neuropathischen Schmerzen, nicht immer angemessen ist. Zudem wird die mangelnde Berücksichtigung von multimodalen Ansätzen, die physische, psychologische und soziale Aspekte der Schmerzbehandlung integrieren, bemängelt. Es besteht auch die Gefahr der Unterbehandlung von Schmerzen, insbesondere bei Patienten, die aus Angst vor Opioiden oder aufgrund kultureller Barrieren eine adäquate Schmerztherapie ablehnen.

Zusammenfassung

Das WHO-Stufenschema bleibt ein grundlegendes Werkzeug in der Schmerztherapie, insbesondere in der Behandlung von Krebsschmerzen. Es bietet eine strukturierte und einfache Anleitung zur Schmerzbehandlung, die weltweit akzeptiert und angewendet wird. Die kontinuierliche Weiterentwicklung und Anpassung an neue Erkenntnisse und Technologien ist jedoch notwendig, um den vielfältigen Bedürfnissen von Schmerzpatienten gerecht zu werden.

Mediziner sollten das WHO-Stufenschema als eine wertvolle Orientierungshilfe betrachten, jedoch stets bereit sein, es an die individuellen Bedürfnisse und Umstände ihrer Patienten anzupassen. Eine umfassende und patientenzentrierte Schmerztherapie erfordert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und eine ganzheitliche Betrachtung des Patienten, um eine optimale Lebensqualität zu erreichen.

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