ABCDE-Schema

Wortart:
Substantiv, neutrum
Aussprache (IPA):
[ABCDE-Schema]
Plural:
ABCDE-Schemata
Trennung:
AB|CDE-Sche|ma
Synonym:
Primary Assessment, Primary Survey
Englisch:
Primary Assessment, Primary Survey

Das ABCDE-Schema ist ein standardisiertes Vorgehen zur Erstbeurteilung und Behandlung von Notfallpatienten. Es bietet einen strukturierten Ansatz, um lebensbedrohliche Zustände schnell zu identifizieren und sofortige Maßnahmen zu ergreifen.

Bedeutung des ABCDE-Schemas

Die einzelnen Buchstaben des ABCDE-Schema steht für:

ABCDE-Schema
  • A ➜ Airway (Atemweg)
  • B ➜ Breathing (Beatmung)
  • C ➜ Circulation (Kreislauf)
  • D ➜ Disability (neurologischer Status)
  • E ➜ Exposure/Environment (Exposition/Umgebung)

Anwendung des ABCDE-Schemas

A – Airway (Atemweg)

Ziel

  • Sicherstellen, dass die Atemwege frei und durchgängig sind.

Vorgehen

  • Ansprechen des Patienten
    ➜ Überprüfen, ob der Patient antwortet. Bei Bewusstlosigkeit sofortige Maßnahmen zur Sicherung der Atemwege ergreifen.
  • Inspektion der Atemwege
    ➜ Mund und Rachen auf Fremdkörper, Blut oder Erbrochenes untersuchen.
  • Freimachen der Atemwege
    ➜ Kopf-Überstrecken, Kinn-Anheben, Esmarch-Handgriff. Bei Verdacht auf Wirbelsäulenverletzungen die Atemwege mit der Jaw-Thrust-Methode öffnen.
  • Sicherung der Atemwege
    ➜ Bei Bedarf Atemwegsmanagement wie Absaugen, Einsetzen eines Guedel-Tubus oder eines endotrachealen Tubus durchführen.

Besondere Hinweise

  • Inhalationstrauma oder Allergien berücksichtigen.
  • Bei Atemwegsverlegungen durch Fremdkörper Heimlich-Handgriff oder Magill-Zange verwenden.

B – Breathing (Atmung)

Ziel

  • Sicherstellen, dass die Atmung effektiv und ausreichend ist.

Vorgehen

  • Beobachtung
    ➜ Atemfrequenz, Atemtiefe, Atemgeräusche und Symmetrie der Thoraxbewegungen prüfen.
  • Auskultation
    ➜ Atemgeräusche beidseits vergleichen. Hinweise auf Pneumothorax, Lungenödem oder Aspiration beachten.
  • Palpation und Perkussion
    ➜ Thorax abtasten und abklopfen, um Unregelmäßigkeiten oder Schmerzempfindlichkeit festzustellen.
  • Sauerstoffgabe
    ➜ Bei Hypoxie Sauerstofftherapie mit Maske oder Nasensonde einleiten.
  • Maßnahmen
    ➜ Bei Atemnot, unzureichender Atmung oder Atemstillstand Beatmung mit Beutel-Masken-Beatmungssystem, CPAP oder Intubation in Betracht ziehen.

Besondere Hinweise

  • Ursachen der Atemprobleme wie Asthma, COPD, Herzinsuffizienz oder Trauma identifizieren und spezifische Behandlungen einleiten.
  • Überwachung mit Pulsoximetrie und Blutgasanalyse zur Beurteilung des Sauerstoff- und Kohlendioxid-Gehalts im Blut.

C – Circulation (Kreislauf)

Ziel

  • Sicherstellen, dass das Herz-Kreislauf-System effektiv funktioniert und die Gewebe mit ausreichend Blut versorgt werden.

Vorgehen

  • Pulsprüfung
    ➜ Frequenz, Rhythmus und Qualität des Pulses (z.B. radial, karotid).
  • Blutdruckmessung
    ➜ Regelmäßige Überwachung des Blutdrucks.
  • Hautzustand
    ➜ Farbe, Temperatur und Feuchtigkeit der Haut prüfen.
  • Kapillarfüllzeit
    ➜ Druck auf das Nagelbett ausüben und Zeit bis zur Wiederauffüllung messen.
  • Blutverlust
    ➜ Auf äußere und innere Blutungen überprüfen und entsprechende Maßnahmen ergreifen (z.B. Druckverbände, Tourniquet).
  • Intravenöser Zugang
    ➜ Venenkatheter legen und Infusionstherapie starten, um den Flüssigkeitshaushalt zu stabilisieren.

Besondere Hinweise

  • EKG-Monitoring zur Überwachung des Herzrhythmus und zur Identifikation von Arrhythmien.
  • Ursachen für Kreislaufprobleme wie Hypovolämie, Herzinfarkt oder Sepsis identifizieren und spezifische Behandlungen einleiten.

D – Disability (neurologischer Status)

Ziel

  • Beurteilung des neurologischen Status des Patienten.

Vorgehen

  • Bewusstseinsgrad
    ➜ GCS (Glasgow Coma Scale) verwenden, um den Bewusstseinsgrad zu beurteilen.
  • Pupillenreaktion
    ➜ Größe, Symmetrie und Reaktion der Pupillen auf Licht prüfen.
  • Bewegung und Sensibilität
    ➜ Motorische und sensorische Funktionen der Extremitäten testen.
  • Blutzuckerspiegel
    ➜ Blutzuckerwerte kontrollieren, um Hypoglykämie oder Hyperglykämie auszuschließen.
  • Schmerzen:
    ➜ Schmerzbeurteilung mit geeigneten Skalen durchführen.

Besondere Hinweise

  • Ursachen für neurologische Veränderungen wie Schlaganfall, Trauma, Intoxikation oder metabolische Störungen berücksichtigen.
  • Bei Anzeichen eines erhöhten Hirndrucks Maßnahmen zur Drucksenkung in Betracht ziehen.

E – Exposure/Environment (Exposition/Umgebung)

Ziel

  • Vollständige körperliche Untersuchung und Sicherstellung eines optimalen Umfelds für den Patienten.

Vorgehen

  • Kleidung entfernen
    ➜ Patienten entkleiden, um eine vollständige Untersuchung zu ermöglichen und potenzielle Verletzungen oder Anomalien zu identifizieren.
  • Körpertemperatur
    ➜ Überwachen und Maßnahmen zur Erhaltung der Körpertemperatur treffen, z.B. Decken oder Wärmelampen verwenden.
  • Verletzungen
    ➜ Auf Verletzungen, Hautausschläge oder andere Auffälligkeiten achten.
  • Umgebungsfaktoren
    ➜ Sicherstellen, dass der Patient in einer sicheren und angenehmen Umgebung liegt.

Besondere Hinweise

  • Prävention von Hypothermie, insbesondere bei Trauma-Patienten.
  • Bei Bedarf Maßnahmen zur Infektionsprävention und -kontrolle einleiten.

Hintergrund des ABCDE-Schemas

Das ABCDE-Schema wurde entwickelt, um medizinischem Personal einen strukturierten und systematischen Ansatz zur Erstbeurteilung und Behandlung von Notfallpatienten zu bieten. Es ermöglicht die rasche Identifikation und Behandlung lebensbedrohlicher Zustände (nach dem traumatologischen Grundsatz „Treat first what kills first“), indem es die Priorisierung wichtiger physiologischer Funktionen erleichtert.

  • Entstehung
    • Das ABCDE-Schema wurde ursprünglich im Rahmen der Notfallmedizin entwickelt und ist inzwischen ein weltweit anerkanntes Standardverfahren.
  • Ziel
    • Ziel ist es, eine schnelle und umfassende Beurteilung des Patienten zu ermöglichen und sofortige lebensrettende Maßnahmen einzuleiten.
  • Anwendung
    • Es wird sowohl im präklinischen Bereich (z.B. Rettungsdienst) als auch in klinischen Einrichtungen (z.B. Notaufnahme, Intensivstation) eingesetzt.

Nachfolgende Untersuchungen

Nach der Anwendung des ABCDE-Schemas sollten detaillierte Untersuchungen und Diagnostik durchgeführt werden, um die zugrunde liegenden Ursachen der identifizierten Probleme zu ermitteln und eine umfassende Behandlung zu planen.

Erweiterte Anamnese

  • SAMPLE
    ➜ Symptomatik, Allergien, Medikamente, Patientengeschichte, Letzte Mahlzeit, Ereignisse (vor dem Notfall).
  • OPQRST
    ➜ Onset (Beginn), Provocation (auslösende Faktoren), Quality (Qualität der Symptome), Radiation (Ausstrahlung), Severity (Schweregrad), Time (Zeitverlauf).

Detaillierte körperliche Untersuchung

  • Vollständige Inspektion, Palpation, Perkussion und Auskultation.
  • Untersuchung spezifischer Systeme basierend auf den im ABCDE-Schema identifizierten Problemen.

Labordiagnostik

  • Bluttests wie Blutbild, Elektrolyte, Nieren- und Leberwerte, Blutgase.
  • Urinuntersuchungen zur Beurteilung der Nierenfunktion und zum Nachweis von Infektionen.

Bildgebende Verfahren

  • Röntgenaufnahmen (z.B. Thorax-Röntgen) zur Beurteilung von Lungen und Herz.
  • Sonografie zur Untersuchung von Bauchorganen und Gefäßen.
  • CT oder MRT zur detaillierten Untersuchung bei Verdacht auf spezifische Pathologien (z.B. Schädel-Hirn-Trauma, Schlaganfall).

Elektrokardiographie (EKG)

  • Überwachung des Herzrhythmus und Erkennung von Arrhythmien oder ischämischen Veränderungen mittels EKG.

Spezialisierte Tests

  • Spirometrie zur Beurteilung der Lungenfunktion.
  • Endoskopie zur Untersuchung des Magen-Darm-Trakts.

Übergabe an das nächste Team

Eine strukturierte und effektive Übergabe ist entscheidend, um die Kontinuität der Versorgung sicherzustellen und Informationen präzise weiterzugeben.

ISBAR-Methode

  • I ➜ Identify: Identifikation von Patient und Team.
  • S ➜ Situation: Kurze Beschreibung der aktuellen Situation.
  • B ➜ Background: Relevante medizinische Vorgeschichte und bisherige Behandlung.
  • A ➜ Assessment: Aktuelle Beurteilung und durchgeführte Maßnahmen (einschließlich Ergebnisse des ABCDE-Schemas).
  • R ➜ Recommendation: Empfehlungen und nächste Schritte.

Dokumentation

  • Detaillierte Aufzeichnung aller Befunde, Maßnahmen und Reaktionen des Patienten.
  • Verwendung standardisierter Formulare oder elektronischer Patientenakten zur Erfassung aller relevanten Informationen.

Kommunikation

  • Klarheit und Präzision in der verbalen Kommunikation.
  • Möglichkeit für das empfangende Team, Fragen zu stellen und Unklarheiten zu klären.

Varianten des ABCDE-Schemas

Das ABCDE-Schema kann je nach Patientengruppe oder spezifischen klinischen Situationen angepasst werden.

ABCDE-Schema für Kinder

  • Berücksichtigung kindlicher Anatomie und Physiologie.
  • Angepasste Normwerte für Vitalparameter.
  • Besondere Aufmerksamkeit auf spezifische kinderärztliche Notfälle (z.B. Atemwegsobstruktion durch Fremdkörper).

ABCDE-Schema für Schwangere

  • Berücksichtigung der physiologischen Veränderungen während der Schwangerschaft.
  • Zusätzliche Aspekte wie Uteruslage und fetale Überwachung.

ABCDE-Schema für Traumapatienten

  • Erweiterung um zusätzliche Buchstaben: C-ABCDE-Schema (Critial Bleeding, Airway, Breathing, Circulation, Disability, Exposure).
  • Priorisierung der Kontrolle lebensbedrohlicher Blutungen (Critial Bleeding) vor der Sicherstellung der Atemwege.

ABCDE-Schema für Intensivpatienten

  • Anpassung an die komplexen Bedürfnisse von Patienten auf der Intensivstation.
  • Integration fortlaufender Überwachung und spezieller diagnostischer Maßnahmen.

Zusammenfassung

Das ABCDE-Schema bietet einen strukturierten und systematischen Ansatz zur Beurteilung und Behandlung von Notfallpatienten. Es hilft, lebensbedrohliche Zustände schnell zu identifizieren und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Die Anwendung dieses Schemas ist essenziell für die schnelle und effektive Versorgung in Notfallsituationen und stellt sicher, dass keine wichtigen Aspekte übersehen werden.

Quellen

  • Krohmer, J. R. (2017). The ABCs of Emergency Medicine. McGraw-Hill Education.
  • Resuscitation Council (UK). (2021). Advanced Life Support. 10th Edition. Resuscitation Council (UK).
  • Nolan, J. P., Soar, J., Zideman, D. A., Biarent, D., Bossaert, L. L., Deakin, C., … & Wyllie, J. (2010). European Resuscitation Council Guidelines for Resuscitation 2010. Resuscitation, 81(10), 1219-1276. doi:10.1016/j.resuscitation.2010.08.021
  • Jensen, J. L., Croskerry, P., & Travers, A. H. (2009). Paramedic clinical decision making during high acuity emergency calls: design and methodology of a Delphi study. BMC Emergency Medicine, 9(1), 17. doi:10.1186/1471-227X-9-17
  • Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI). (2023). ABCDE-Schema zur Notfallversorgung. Abgerufen 12. Juli 2024, von Dgai.de website: https://www.dgai.de
  • Resuscitation Council (UK). (2023). ABCDE Approach. Abgerufen 12. Juli 2024, von Org.uk website: https://www.resus.org.uk